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SHIH,
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Es ist schwer, die Kompositionen Shihs in die Schubladen abendländischer Musikrezeption einzuordnen. Zu kontroversiell ist sein Schaffen, um normierende Definitionen zuzulassen. Formsuche und zugleich Formskepsis, Ausdrucksvielfalt und gleichzeitig absolute Beschränkung und Enthaltsamkeit stehen im Schaffen gleichberechtigt nebeneinander. "Meine Musik ist nicht traditionell, wohl aber traditionsverbunden. Der Komponist ist ein Teil einer langen Tradition. Er steht in dieser Tradition und muss sich mit der Tradition auseinandersetzen. Natürlich kann ich mich zurückziehen, die Tradition verabschieden und mich ganz dem Experiment hingeben. Aber dann vereinsamt man rasch, nicht nur menschlich, sondern auch künstlerisch. Es ist notwendig, sich der langen kulturgeschichtlichen Vergangenheit bewusst zu sein, um zu einer künstlerischen, d. h. individuellen Gegenwart zu gelangen." (Shih) Bereits in den frühen Kompositionen wird Shihs Abwendung vom eingängigen äußeren Effekt deutlich. Auch eine gewisse Skepsis gegenüber der Ausnotierung, der metrischen, dynamischen und rhythmischen Festlegung der Musiker durch ein starres Partiturkorsett, zeichnet seine Kompositionen aus. Die Schwerelosigkeit, die Shihs Musik atmet, resultiert zu einem nicht geringen Teil aus diesem Umstand, dem Interpreten durch "Freiräume" Zugänge zum Werk zu schaffen. "Was mich inspiriert, ist die Struktur von Gefühlen, ihre Mechanik, ihre Motorik, die eigendynamischen Prozesse, denen Emotionen unterworfen sind. Auch Gefühle stehen in einer langen Tradition. Ich setze mich mit der Tradition der Gefühle auseinander. - Das ist natürlich Arbeit mit der Lupe. Man muss schon sehr genau hinschauen, um das unmittelbare Gefühl von dem abzuziehen, wovon es nur die Spitze bildet. Natürlich bin ich von meiner Herkunft geprägt. Ich habe nicht das abendländische Denken, das aus einem Blatt einen Baum und aus dem Baum einen Kosmos entwickelt, sondern ich betrachte das Blatt in all seinen Feinheiten, mit seinen inneren Spannungen, mit den Bewegungen seiner Zellen." (Shih) Deutlich ist dies vor allem in dem "Fluss"-Triptychon zu beobachten. Mit "...fällt über dem Fluss die Nacht ein" (1995)," Die Überquerung des Flusses" (1996) und "Die Trennung" (1999/2000) hat Shih ein System des musikalischen Blickwurfes auf sich ständig transformierende komplexe musikalische Vorgänge innerhalb von alternierenden Spannungs- und Entspannungszuständen entworfen, vergleichbar dem "Minutentraum, zu dem sich ein ganzer Lebensabschnitt verdichtet..." In der Oper "Vatermord" mutiert Shihs Vorliebe für das Durchleuchten affektiver Strukturen zum minutiösen Vorgang des Sezierens. "Der heutige Mensch ist in vielfacher Weise gehemmt und verklemmt. Muss ihn auch noch die Musik darin bestärken - statt ihn davon zu befreien? Ich hätte niemals meine Oper 'Vatermord' schreiben können, hätten mich nicht die Affekte der (von Bronnens Vorlage vorgegebenen) Figuren interessiert, aus denen sich die Handlung des Stückes entwickelt. Das braucht durchaus nichts mit meinen persönlichen Empfindungen zu tun zu haben. Ähnlich bei meinem Oratorium 'Lebend'ges Land': Um den komplexen psychischen Prozess von panischer Angst zu nachdenklicher Zuversicht in Musik umzusetzen, muss ich ihn zuerst einmal selber nachvollziehen können - und zwar in allen seinen Abläufen, in allen von ihm angerichteten Verstörungen und Verwundungen, in allen seinen Emotionen." (Shih) Bereits in seiner chinesischen Heimat hat sich Shih mit den Traditionen der Peking-Oper befasst. Nach seiner Übersiedlung nach Europa studierte er eingehend die funktionellen Mechanismen des abendländischen Musikdramas. Arnolt Bronnens Drama bietet ihm reichlich Gelegenheit, sein Talent im Entwickeln musikdramatischer Spannungszustände unter Beweis zu stellen. Shih bekennt selbst, er könne nur an einer konkreten "Geschichte" seine "Leidenschaft für das Psychodramatische" entzünden. Gleichzeitig handelt er damit dem anti-narrativen Trend der Zeit zuwider, der nicht mehr die Parabel (den "plot") als Transmitter von Ideen kennt, sich von der fassbaren "Story" abgewendet hat und in der abstrakten Zelebration von Zuständen die letztmögliche Form des Ausdrucks sieht. Es ist in gewisser Weise auch ein "Vatermord", den Shih mit seiner Oper begeht, denn er handelt gegen das Diktat seiner Zeit, indem er auf die vielerorts geschmähte Handlungsoper zurückgreift. Doch Handlung ist in dieser Oper nicht mit abbildender Darstellung zu verwechseln. Was sich als dramatischer Bogen über das Werk spannt, die unaufhaltsame Befreiung eines Menschen von Zwängen bis hin zur Gewalttat, zerfällt in neun Episoden, die, jede für sich betrachtet, die Phasen des Befreiungsaktes anhand der psychischen Befindlichkeiten des zwischen Ohnmacht und Aufbegehren taumelnden Protagonisten beleuchten. Entwickelt und vorerprobt wurde diese Technik in dem Open-End-Zyklus" Ein Takt für...." - Seit 1991 schreibt Shih an diesem "work in progress" für alle existierenden Instrumente, entweder solo oder in Kombination miteinander. In diesen "Takten" unterschiedlichster Länge befasst sich der Komponist intensiv mit der Poetik des verwendeten musikalischen Materials auf rhythmischer, klanglicher und struktureller Ebene. Christian Baier
(Stand: April 2002 - aktuelle Werkliste siehe unten)
Geburtstag
29.11.1950
Biographie
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© Uta Köstler