SCHEDL Gerhard
Julie & Jean. Ein Match in zwölf Runden. Musiktheater nach Motiven von August Strindbergs Drama
Text: Bernhard GlocksinJulie (S), Jean (Bar), gem. Chor
Beschreibung
Zuvor: Zwei Protagonisten, fremd/vertraut, gefangen und genarrt von den Gesichten eines ewigen Mittsommernachtstraums, finden sich „entzweit“ im Treibhaus der Gefühle zwischen Schuld und Sühne, Sehnsucht und Ohnmächtigkeit. Angenommen, ein Mann wäre erneut befangen vom zweiten Geschlecht, berauscht und unvermittelt in eine musikalische Handlung versetzt, worin sich plötzlich Verwandlungen und Umwälzungen ereignen, als wären alle vertrauten Erinnerungen des Daseins explodiert...?! „Wie man es macht, macht man es falsch“, bemerkt Gerhard Schedl – und so erlebt seine Julie die Phantasmagorie ihres Daseins in einer Art Nahkampf: Boxring, Arena, ein Match in 12 Szenen. Alban Bergs "Lulu", deren Seele erst im Jenseits die Augen der Erkenntnis aufschlägt, war der körperlichen Kunst, der Welt des Zirkus assoziiert. Bergs kompositorische Unternehmungen waren zuweilen von einer geheimen Zahlenmagie inspiriert. Intervallkonstellationen als Resultat erotischer Kryptogramme: die Tonverhältnisse machen die Musik. Gerhard Schedl: „Für Euklid ist die Welt Zahl; für mein Musikwelt gilt das auch“. Ein Schelm, der von wegen Altsaxophon und Piccolo an Lulus klingende Emanationen denkt: Schedl hat Julie und Jeans Vokalcharakteren jeweils ein Cello beziehungsweise Altsaxophon beigesellt – der Mensch denkt, aber es ist der Komponist, der lenkt ... 1 Als Gustav Mahler vor seinem Aufbruch nach Amerika zum letzten Mal seine Vertrauten in Wien um sich scharte, empfahl er den jungen Menschen aus dem Schönberg-Kreis „mehr Dostojewski“. Pause. Stille. Leise und bestimmt bricht eine Stimme das Schweigen: „T’schuldigung, Herr Direktor, aber wir haben den Strindberg“ – also sprach Anton Webern. Was hat es auf sich mit diesem Strindberg, was macht ihn noch heute akut und virulent? Vielleicht kann man es mit den Worten Franz Kafkas erläutern: „Ich lese Strindberg nicht, um ihn zu lesen, sondern um an seiner Brust zu liegen“ – und: „Strindberg gelesen, der mich nährt“. Nun ist Musik zuweilen durchaus schwermütige Nahrung für verliebtes Volk. Indes: wie geht man heutzutage um mit diesen Gespenstersonaten und Totentänzen, mit ihrem Unabgegoltenen eines Vergangenen, das Zukunft schaffen soll im derzeitigen Zustand einer Opernwelt, die oft nichts anderes ist, als rat- und rastloser Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit? Gerhard Schedl hat es unternommen, das merkwürdige Spiel um Fräulein Julie als vielschichtiges Vexier- und Traumspiel abermals aufzurollen, es szenisch-musikalisch neu zu reflektieren. Naturgemäß geht es um die Welt als Hölle, Inferno und Geschlechterkampf; freilich umfunktioniert, neu fokussiert und radikal freigesetzt mit musikdramatischen Mitteln. Strindbergs „naturalistisches Trauerspiel“ erlebt seine Neudefinition aus dem Geist der Musik. Alles scheint möglich. Doch nichts mehr wird gehen. So werden Jean und Julie „operabel“ und zu ihrer vollkommenen Kenntlichkeit verfremdet. Im Vorfeld stehen vielleicht noch Anton Tschechows fragende Zeichen: „Wie, wenn man das Leben noch einmal beginnen könnte? Und zwar bei voller Erkenntnis? Wie, wenn das eine Leben, das man schon durchlebt hat, ein erster Entwurf war, zu dem das zweite die Reinschrift bilden wird?“ – So viel Zuvor. So viel Überhang von Tradition und Geschichte. Als Ahnung freilich auch von einem Traum, der Hoffnung wäre auf einen anderen Zustand – hinter dem herkömmlichen Dasein, hinter allen natürlichen Dingen. Beginnlos hebt es an, das neuerliche (Rollen-)Spiel zwischen Fremdheit und Begehren, um abermals zu enden in den dunklen Labyrinthen zwischen Sein und Schein, Scheitern und Vergeblichkeit. Die Unheimlichkeit der Schatten, die dieses Begehren überwölben, zwingt die Seelenseismogramme einer Zweierbeziehung, die keine ist und sein kann, zum Rückfall in den – gealterten – Status quo. Die Figuren wollten es anders, aber als Protagonisten unterliegen sie der Abstraktion des Agon, dessen Regeln keinen Ausweg ermöglichen, geschweige denn Ausblick auf Hoffnung. 2 Zunächst jedoch hat es den Anschein, als wären Julie und Jean den verhängnisvollen Spuren ihrer Vorgeschichte entronnen. Geheim, in stummer Aktion scheinen sich die beiden Figuren in der ersten Szene herauszustehlen aus den anonymen Rahmenbedingungen von Gesellschaft und Geschichte – repräsentiert vom „Chor der langen Schatten“, hier ins Messgewand der römisch-katholischen Liturgie verkleidet. Doch schon das Kyrie eleison geleitet ins Fiasko eines radikal beschädigten Lebens, das die Vergeblichkeit der Suche nach der verlorenen Liebe manifestiert anhand der Fall-Studie zweier fataler Biographien, worin niemand je (Selbst)Begegnung gestattet ist, noch sein wird. Zwei Figuren sind auf der Flucht, sie wollen ins Offene. Fordern die maximale Freiheit einer neuen Lebensweise. Ins Ästhetische übertragen bedarf es also einer neue, befreiten Erzählform. Doch dies – so eine der kompositorischen Prämissen von Schedl – geht nur mit höchster Strenge der formalen Konstruktion. Strenger Palestrina-Kontrapunkt dominiert also zunächst das musikalische Geschehen, und er wird – imitationsreich und vielstimmig geschürzt – an entscheidende Wendepunkten der Handlung unbeirrt vorherrschen. Unter diesen Vorzeichen erleben die beiden Figuren keine fröhlich Renaissance, sie gleichen vielmehr Kopf- ja Totgeburten im modernen Laboratorium einer universalen Ohnmacht der Gefühle. So treten sie gleichsam ständig fliehend auf – und können dennoch ihrem Fluch nicht entkommen. „Fin de fête. Fin de partie“ heißt es an einer exponierten Stelle der Oper – und so wird das Spiel vom Verrat und Liebesverbot alsbald zum Spiel vom Ende: letal, aller Wahrscheinlichkeit nach, für die Frau; aber auch die Dialektik von Herr und Knecht wird als männliches Prinzip am Ende nicht gut dastehen. Und doch ist dem ungleichen Paar im zentralen Mittelteil der musikalischen Handlung so etwas wie Höhepunkt und Erfüllung gegeben. Allein dieser Akt der existentiellen Vereinigung findet zwischen zwei großen Chorszenen statt. Und Gloria und Credo verheißen nichts Gutes. Glaube Liebe Hoffnung – davon weiß Schedl manch besonderes Lied zu singen – und kurz und knapp bemerkt er: „Glauben heißt auch zweifeln“. So verschwindet diese Liebe samt ihrer geheimen Utopien unversehens durch eine imaginäre Falltür ins Nichts. Alles weitere ist gezeichnet von einer Art Nachbeben: höchster Lust folgt tiefster Frust. Die szenisch-musikalische Perspektive geleitet ins Öde, ins Leere, in eisige Einsamkeit. Nichts mehr als verlorene Illusionen, samt radikaler Desillusion noch der geheimsten Visionen und Träume. Eben diese beschädigten Traumbilder aber, die lädierten inneren Monologe, machen Schedls Oper nach Strindberg zum besonderen Fall. Denn die Traumsequenzen suggerieren einen anderen Raum ohne Zeit. Samt Einblicken in die fremde Innenwelt von Figuren, die an ihrer Erinnerung und der Außenwelt scheitern müssen. Ob produktive Tagtraumreste verbleiben, ist ungewiss. Hier herrscht nur Rückfall in die Realität. Umso schlimmer für die Tatsachen. Julie wird zuletzt sich selbst und der Welt abhanden kommen. Jean fingiert seine Reintegration, organisiert seine Einübung in die obligatorische Normalität zwischen Mittelmaß und Wahn und wird zum Teil-Ornament jener Masse, die der Chor repräsentiert. Die kollektiven Konfessionen des Benediktus-Schlussgesangs schillern indessen im Zwielicht von Tod und Verklärung. Julie und Jeans Stimmen verstummen. Ihre Beginnlosigkeit mündet am Ende in ab-solute Losigkeit. Mit einem Salto mortale hatten sie sich in ihr endgültiges Endspiel gestürzt. Dessen Regulate jedoch besagten: „Rien ne va plus“. So pendelt diese Geschichte aus in einer musikalischen Dialektik der Einsamkeit. Würde Indras Tochter sich angesichts von Schedls Traumspiel der zweifach gescheiterten Hoffnung abermals sagen, dass es schade sei, um diese Menschen? Wolfgang Hofer
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