CERHA Friedrich
Kammermusik für Orchester
Auftragswerk der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien
Untertitel
mit konzertanter Oboe (2005-08)
Erscheinungsdatum
2008
Dauer
27'
Bestell-Nr.
Aufführungsmaterial leihweise
Keine Medien vorhanden
Beschreibung
Nach meiner intensiven Arbeit mit Massenstrukturen in Klangkompositionen wie „Fasce“ und „Spiegel“, in denen ich mir um 1960 eine von allen traditionellen Formulierungen freie Klangsprachen geschaffen habe, hat mich eine ungeheure Sehnsucht nach genau durchhörbaren Intervallen und im einzelnen deutlich unterscheidbaren Gesten in meiner Musik erfasst. Während der Arbeit am noch sehr puristischen „Ursatz“ meiner „Exercises“ (1962-67) ist mir schnell klar geworden, dass jeder Schritt, den ich in diese Richtung gehen, mich unweigerlich zu einer Berührung mit Qualitäten aus unserer musikalischen Tradition führen würde. In der Folge habe ich in diesem Stück dann auch bewusst ihrem Charakter und ihrer stilistischen Provenienz nach sehr verschiedene kurze Abschnitte, die ich „Regresse“ nannte, gleichsam in das puristische Grundmaterial hineingeworfen und die Wirkungen der verschiedenen Strukturebenen aufeinander ausgelotet.
Dieser Versuch ist schließlich zur Basis eines vielfältigen, komplexen musikalischen Organismus, - meines erst Ende der 70er Jahre vollendeten Bühnenstücks „Netzwerk“ geworden.
Dazwischen habe ich allerdings in einigen, wenigen Werken gleichsam „den Stier bei den Hörnern gepackt“ und mir – was durch keinen intellektuellen Exkurs zu ersetzen ist – in meiner Arbeit die Qualitäten ganz bestimmter und verschiedener stilistischer Phänomene verfügbar gemacht.
Am Anfang dieser kurzen Periode stand 1969 ein Ensemble-Stück, das ich „Catalogue des objets trouvés“ nannte. Dieser aus der bildenden Kunst stammende und in den ersten Jahrzehnten des 20. Jhdts. sehr vielfältig und vieldeutig verwendete Begriff, der nicht nur in meiner eigenen bildnerischen Arbeit sondern auf verschiedenste Weise bis heute in der Szene, aus der er kommt, fortwirkt, schien mir dem Charakter dieses Stücks zu entsprechen.
„Catalogue“ ist in dieser Verbindung ein Hinweis darauf, dass es kein Formschema gibt, dass die einzelnen Glieder im Geschehen gleichberechtigt sind und der Ablauf schroffe Überraschungen bieten kann. „Das Zusammentreffen wesensfremder Realitäten“, von dem Max Ernst in Bezug auf Collagen spricht, trifft im übertragenen Sinn auf das Stück zu, der provokant-ironische Zug von Bruch und Verfremdung in deren dadistisch beeinflusster Spielart ist mir aber in meiner Arbeit fern gelegen. Ich habe versucht – wie ich das in meinen Bildern tat – im klingenden Material stilistisch verschiedener Provenienz „Objekte“ zu sehen und damit zu „komponieren.“ Dahinter steht eine besondere, ernste Aufmerksamkeit für „Dinge“, die uns begegnen, mit denen wir umgehen, mit denen wir leben, - eine behutsame Zuneigung, eine Liebe zu ihnen. Das schafft ein anderes Verhältnis: nicht das des Benützens und des achtlosen Wegwerfens, wenn man sie nicht mehr braucht, sondern das Entwickeln einer vertraulichen Nähe. Das Musizieren mit John Cage, seine Hingabe und Genauigkeit im Umgang mit – bei ihm allerdings Zufallsmanipulationen zu dankenden – Klangphänomenen und seine dahinter stehende, nicht a priori wertende Wahrnehmung von Wirklichkeiten – hat mich in meiner Haltung sehr beschäftigt. Jedes der klingenden Objekte war mir in dem Stück gleich wichtig.
Auch das Stück selbst war in meiner Entwicklung wichtig. Es wurde in den 70er Jahren viel gespielt, aber so richtig glücklich war ich damit nie. Meine klanglichen Intentionen wurden in der Ensemble-Besetzung nicht wirklich deutlich und auch sonst hatte ich mehrfach das Bedürfnis, es zu überarbeiten bzw. es mir neu zu „erarbeiten“.
Hauptziel meiner Entwicklung in den 70er Jahren wurde es allerdings dann, musikalische Vorstellungen verschiedener Provenienz möglichst nahtlos in einem so komplexen wie vielfältigen musikalischen Organismus zu verschmelzen, was mich zur Sprache meiner Oper „Baal“ und weiteren Stationen auf diesem Weg geführt hat.
In den letzten 10 Jahren ist mir allerdings immer stärker bewusst geworden, wie leicht auf dem langen Weg des kompositorischen „Arbeitens“ vom Herstellen eines komplexen Partiturbildes bis hin zur Tätigkeit des ausführenden Apparats etwas von der Frische und Unmittelbarkeit der Vorstellung im Kopf des Autors verloren geht. Meine Aufmerksamkeit hat sich damit zunehmend darauf gerichtet, die Spontaneität eines Einfalls direkt umzusetzen. Der Moment, der Augenblick wurde für mich wichtig und ich vermied in den letzten Werken – von denen eines auch „Momente“ heißt – eher die breit strömende Entwicklung, die weiträumige Entfaltung, die man häufig mit der Vorstellung des „Symphonischen“ verbindet.
Damit bekam der „Catalogue“ von 1969 für mich neues Interesse. Es zeigte sich, dass das Stück meine Phantasie beflügelte, dass das, was in ihm in nuce vorhanden war, zu wuchern begann und es schließlich nicht um ein „bearbeiten“ ging, sondern fast kein Stein auf dem anderen blieb. Heute ist das alte Stück nur mehr wie hinter einer Nebelwand zu erahnen –
und das wahrscheinlich nur für mich.
Es gibt wenige Tutti -Stellen, aber über weite Strecken Passagen, in denen einzelne Instrumente quasi solistische Funktionen innehaben. Angesichts der filigranen Verästelung, die kammermusikalisches aufeinander Eingehen erfordern und des Fehlens von „symphonischem Gehabe“ habe ich das Stück „Kammermusik für Orchester“ genannt.
Entsprechend ist die Besetzung klein gehalten. Den traditionellen Gruppen der Streicher und Bläser treten allerdings gleichberechtigt Instrumente gegenüber, die sonst oft nur Randaufgaben im Orchester haben, - etwa Orgel, Klavier, Celesta, Cembalo, Harfe, Mandoline, Vibraphon und Marimbaphon. Eine besondere Funktion hat die Oboe. In einer Art rhapsodischer Cadenz übernimmt sie die Rolle eines virtuosen Solisten. Der Oboist – er ist im Orchester der einzige seines Faches – wechselt auch auf Oboe d’amore. Es ist das einzige Mal in meinem Schaffen, dass ich dieses Instrument verwendet habe; sein Klang ist für mich unzertrennlich mit dem Erebnis einer Aufführung der „Sinfonia domestica“ von Richard Strauß unter der Leitung des Komponisten verbunden.
Trotz alles Neuen an der „Kammermusik“ ist es wichtig, ihre Geschichte im Hinterkopf zu haben. Was vom alten geblieben ist, sind einige überraschende Brüche: Inseln von Allusionen an die Klangatmosphäre bestimmter Stellen bei Webern, die von der genannten „außerordentlichen“ Instrumentengruppe wesentlich mitgetragen werden und ein Zitat aus dem „Entr’acte“ des Balletts „Ré`lache“ von Erik Satie, mit dem ich mich in den 60er und 70er Jahren viel beschäftigt habe.
Wie das Ensemble-Stück „Les Adieux“ von 2005 für das Klangforum Wien, das aus der Wiederbegegnung mit einer Elegie für Klavier von 1964 entstanden ist, beruht die „Kammermusik für Orchester“ auf einem neuen Interesse an früheren Konstellationen und Fragestellungen, die einer gegenwärtigen, nur in bestimmter Weise ähnlichen kompositorischen Disposition entsprechen, aber gleichzeitig aus einer Art von „Mainstream“ des von mir Erwarteten herausfallen. Schon der „Catalogue“ war um 1970 in meinem Oeuvre eine quasi singuläre Erscheinung; die „Kammermusik“ dürfte – soweit ich das heute überblicken kann - eine ähnliche Stellung einnehmen. Aber das passt wieder ins Gesamtbild meiner Arbeit, die immer von einem bewussten Wechsel von Perspektiven gekennzeichnet und nie dem ideologischen Zwang bestimmter ästhetischer Positionen unterworfen war.
(Friedrich Cerha)
Inhalt
Rezension
Packendes Erlebnis
„Sensibel aufeinander zu hören und einzugehen, intime Dialoge anzustimmen, die dadurch desto deutlicher und unmittelbarer zum Publikum sprechen… Ein Stück geprägt von abgeklärter Reife!“ So lautet das Credo von Friedrich Cerhas „Kammermusik für Orchester“, einem Auftragswerk der Gesellschaft der Musikfreunde.
Das RSO Wien und sein Noch-Chefdirigent Bertrand de Billy nahmen sich des fast halbstündigen Werkes behutsam an:
Im Mittelpunkt der oftmals „filigranen Verästelungen, die kammermusikalisches Aufeinander-Eingehen erfordern“, stand das in Höchstform musizierende RSO. Streicher und Bläser standen etwa Orgel, Klavier, Celesta, Cembalo, Harfe, Mandoline, Vibraphon und Marimbaphon gleichberechtigt gegenüber. Dabei nahmen die Oboe (abwechselnd Oboe d’amore) mit Thomas Höniger eine effektvolle solistische Rolle ein. In Cerhas Schaffen das einzige Mal! De Billy wusste genau, wie dieses riesige Werk zu gestalten war. Es gelang ihm, Spannungsbögen aufzubauen und die vielen Teile als geschlossenes Ganzes wirken zu lassen. (…)
Florian Krenstetter, Kronenzeitung 14.05.2010
Friedrich Cerha trickst Schönberg aus
(…) Die musikantische Brillanz kam diesmal auch einer Novität zugute: Friedrich Cerha hat aus älteren, skizzenhaften Stücken ein zusammenhängendes symphonisches Werk geschaffen, das vom RSO in aller denkbaren Farbenpracht und Ausdrucksfülle zelebriert wurde: Da wachsen verzehrende melodische Linien, durch alle Register geführt, zu immer neuen Klangtürmen empor; und stets beginnen nach den Höhepunkten aus zarten Pflänzchen – etwa einem exquisiten Oboensolo – wieder neue Verzweigungen zu wuchern. Ein naturhafter, faszinierender Klangprozess, der die „Dritte Wiener Schule“ viel näher ans – im Programm klugerweise danach platzierte – Ravel-Märchen „Ma mere l’oye“ rückt als an Schönberg… (…)
Wilhelm Sinkovicz, Die Presse, 14.05.2010
Springender Funken und weit gespannte Bögen
„Kammermusik für Orchester“ nennt Friedrich Cerha seine großformatige Auftragskomposition, die von der Gesellschaft der Musikfreunde angeregt wurde. Das Festwochen-Konzert am Mittwoch, bei dem sie das ORF Radio-Symphonieorchester Wien uraufführte, hätte im Grunde unter demselben Motto stehen können. Es ist zwar paradox, aber nur wenn sich ein Orchester die Fähigkeit erhält, ähnlich wie bei Kammermusik aufeinander zu hören und zu reagieren, kann im entscheidenden Moment der Funke überspringen. (…) Von diesen Qualitäten profitierte Cerhas „Kammermusik“ mit ihren weitgespannten Bögen, ihren heiklen, sich ineinander verzahnenden Linien von Mandoline, Harfe, Tasteninstrumenten und Schlagzeug, aber vor allem dem Gesang einer solistischen Oboe und Oboe d’amore (Thomas Höniger) fast noch mehr. Denn hier brachten sich die Musiker in einem Maße gestaltend ein, das ihren selbstverständlichen Zugang zu zeitgenössischer Tonsprache ebenso zeigte wie Cerhas Anknüpfen an hochexpressive Gesten aus der nachromantischen Tradition.
Das Publikum nahm dies dankbar zur Kenntnis und feierte den 84-Jährigen entsprechend stürmisch.
Daniel Ender, Der Standard, 14.05.2010
Neue Musik, leicht zu fassen
"Es war einer jener Momente, in denen man gerne Mauserl gespielt hätte: Als sich Friedrich Cerha nach der Uraufführung seiner Kammermusik für Orchester zu Dirigent Bertrand de Billy wandte und ihm etwas zuflüsterte. Was wohl? Es sei dahingestellt, einen zufriedenen Eindruck machten beide: der 84-jährige Wiener Komponist und der Chefdirigent des RSO Wien. Auch das Publikum hatte Gefallen gefunden an dem als Auftragswerk der Gesellschaft der Musikfreunde entstandenen gut fasslichen Werk. Klar und erkennbar sind sowohl die melodischen als auch die strukturgebenden Bausteine in diesem "kammermusikalischen Aufeinander-Eingehen". Solistische Kantilenen (schön die Oboensoli von Thomas Höniger) wechseln mit klangdichten Passagen. Es ist ein Leichtes, der knapp halbstündigen Komposition, die dem Orchester vier Tasteninstrumente und eine Mandoline hinzufügt, aufmerksam zu folgen. (...)"
Marion Eigl, Wiener Zeitung, 15./16.05.2010
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