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URBANNER Erich

Streichquartett Nr. 6

Untertitel
für das Artis Quartett Wien
Erscheinungsdatum
2008
Besetzung
Streichquartette
Dauer
20'
Bestell-Nr.
06 190

Keine Medien vorhanden

Beschreibung

Als „Summe von Erfahrungen“ bezeichnet Erich Urbanner sein sechstes Streichquartett, bei dem der Komponist all jene musikalischen Erkenntnisse auf neue Weise bündelt, die er gerade in dieser für sein Schaffen so bedeutsamen Königsdisziplin der Kammermusik machen konnte. So spiegelt das am 19. März 2008 abgeschlossene, überaus intensiv und dicht gearbeitete Quartett die Entwicklung seiner fünf Vorgängerwerke in sublimierter Weise ebenso wider, wie es dabei doch Türen aufstößt in für Urbanner neue, ganz persönliche Räume. Es sind nicht zuletzt Erich Urbanners Streichquartette, die sich als wichtige Wegmarken seiner kompositorischen Entfaltung begreifen lassen. Nahm sich der Student bei seinem unveröffentlicht gebliebenen Erstling (1956) noch die „Krücke der Dodekaphonie“ (Urbanner) zu Hilfe, um auf der Grundlage einer Allintervallreihe ein in Webern’scher Manier knappes, rückläufig gebautes Gebilde zu schaffen, bei welchem dem hellhörigen Zwanzigjährigen dann einige Probleme bewusst wurden, griff er bei seinem zweiten Quartett weiter in der Musikgeschichte zurück. Im Folgejahr entstanden und zum Siegerwerk eines vom Verlag Doblinger ausgeschriebenen Kompositionswettbewerbs gekürt, handelt es sich hier, den Anforderungen gemäß, um eine auch von Laien bewältigbare, musikantisch geprägte Spielmusik, welcher Urbanner eine suitenähnliche formale Gestalt gegeben hat. Das ebenso komprimierte wie experimentelle dritte Quartett (1972) bedeutete dagegen einen unerhörten musikalischen Sprung hin zur Erprobung des spieltechnisch überhaupt noch Bewältigbaren. In einer eigenen „Zeitstreckennotation“ (Urbanner) festgehalten, sind die reich differenzierten klanglichen Ereignisse teils exakt, teils mit bewussten aleatorischen Unschärfen notiert, geben damit Musikalität und Spieltrieb der Ausführenden einen (freilich genau kalkulierten) Raum – und werden formal mittels einer Sonatenhauptsatzform mit doppelter Durchführung gebändigt: gleichsam ein Trick Urbanners, der stets bestrebt ist, Interpreten und Publikum zu fordern, aber nicht zu überfordern. Die mit diesem Werk begonnene Zusammenarbeit mit dem Alban Berg Quartett, welches es in Auftrag gegeben und international mit großem Erfolg immer wieder gespielt hat, zählt zu den dauerhaftesten und fruchtbarsten, die Urbanner, der Komponist ebenso wie der Aufnahmeleiter im Studio, mit seinen Interpreten erfahren sollte – und ließ in ihm den Entschluss reifen, künftig nur mehr mit bestimmten Musikern „im Ohr“  zu komponieren, ihnen ihre Parts auf den Leib zu schreiben. Das war auch beim nicht minder häufig aufgeführten vierten Quartett (1991/92) der Fall, bei dem Urbanner das Experimentelle wieder eingeschränkt und dafür die Individualität der vier Musiker des Alban Berg Quartetts, ihre charakteristische Spielweise in den Vordergrund gestellt hat – prononciert solistische Aufgaben mit eingeschlossen. Hier kam schon einer jener einsätzig-zyklischen Formabläufe zum Einsatz, die Urbanner in der Folge immer wieder modifiziert anwenden sollte, bestimmt durch die verwandelte Wiederkehr von Material in einem durchkomponierten Verlauf, bei dem manches verschwinden oder in anderem aufgehen, manches aber auch neu hinzutreten kann. Im Sinne einer musikalischen Genealogie scheint es nur logisch, dass Urbanners fünftes Werk der Gattung 2001 für das Hugo Wolf Quartett entstanden ist – nachdem der Komponist mit den Musikern Ligetis 2. Quartett einstudiert hatte und diese sich nach dieser beglückenden Erfahrung mit einem Kompositionsauftrag bedanken wollten. Die von Urbanner als schicksalshaft empfundene Zahl Fünf, zu welcher er nun erstmals in einer Gattung vorgeschritten war (es existierten neben den vier bisherigen Quartetten auch ebenso viele „Improvisationen“ und Klavierkonzerte), inspirierte den 65-Jährigen zu einem überaus persönlich motivierten Werk, bei dem das unaufhaltsame Voranschreiten der Zeit in pochenden, an Herztöne gemahnenden Pulsationen sinnfällig wird und der symbolhafte Versuch mitzuerleben ist, durch das Festhalten melodischer Entwicklungen das immer rascher Ablaufende zu verzögern. Demgegenüber scheint Urbanner in seinem sechsten Streichquartett, entstanden für die Musiker des Artis Quartetts, bei allen emotionalen und materialtechnischen Beziehungen zu den vorangegangenen Werken nun mit einer gewissen Abgeklärtheit aufs Dasein zu blicken. Freilich wurde nichts vom Durchlebten vergessen, aber die resümierende Haltung verstellt auch nicht die Aussicht auf die Zukunft. Ähnlich sauber und penibel, wie Urbanner seine Noten nach wie vor handschriftlich aufs Papier setzt, präsentiert sich auch die formale Konzeption des erneut einsätzigen Werks, für das mehrere Gestaltungsprinzipien maßgeblich sind: der Kontrast, die entwickelnde Variation, der bewusste, auch zahlensymbolisch untermauerte Verweis auf die fünf Streichquartette davor. „Natürlich“, stellt Urbanner fest, lägen dem sechsten Streichquartett auch sechs durch ihr Material miteinander verwandte Formteile zugrunde – lebendige, stets im Wandel begriffene musikalische Charaktere, bei denen auch das strukturell Gleiche im Sinne einer Intensivierung stets einen Schritt vorwärts macht. Ihre Aufeinanderfolge vollzieht sich, in dieser Gestalt ein Novum bei Urbanner, in schrittweise größer werdenden Gruppen: Einem kontrastreichen Paar folgen nacheinander eine Dreier-, eine Vierer- und schließlich eine Fünfergruppe. „Weiter kann ich nicht gehen“, ist Urbanner überzeugt und spielt damit auf die zahlensymbolischen Grenzen des sechsten Quartetts an, die sich aber nicht nur in der Makro-, sondern auch in den Mikrostruktur widerspiegeln, nämlich in den motivischen Bildungen: Übergeordnete Verläufe stiften subtile Zusammenhänge, indem sich etwa Auftakte vom Einzelton zu schrittweise sich vergrößernden Figuren auswachsen, welche auch in melodischen Verläufen eine expressive Rolle spielen – als Zweiton-, Triolen-, Vierton- und Quintolenmotive. Das vernetzt den hochkomplexen, aber in seiner Gestik unmittelbar verständlichen Tonsatz weiter, ebenso wie es der sinnfällig differenzierte Einsatz von Bewegungsrichtungen tut. Das eröffnende Paar formaler Abschnitte besteht aus einem markanten Teil (A) und einem gesanglichen Teil (B). Bei der sich anschließenden Dreiergruppe wird die gesteigerte Wiederkehr des kantablen (B) von zwei rhythmisch pointierten, neuen Abschnitten (C) umschlossen. Daraufhin bringt die Vierergruppe zwei neue Charaktere ins Spiel: einen fließenden, bei dem kontrapunktische Linien einen Cantus firmus umspielen (D) und einzelne Flageoletts herausleuchten, sowie einen rezitativischen, improvisatorisch anmutenden (E). Dessen konfrontativer Zug wird mit dem neuerlichen Auftritt des lyrisch sanften (B)  kalmiert und von der pointierten Rhythmik von (C) gefolgt. Die abschließende Fünfergruppe ist die komplexeste, auch innerhalb ihrer einzelnen Teile: Da erfährt zunächst (A) eine markante Reprise, bei der jedoch Flageoletts rasch überhand nehmen und ein Klangfarbenfeld aufspannen. Daraufhin werden zwei ruhigere Formteile gemeinsam abgehandelt und intensiviert, (D) und (B), die in ein neuerliches Rezitativ münden (E), welches nun freilich Durchführungscharakter annimmt, aggressiver tönt und nach einem erregten Höhepunkt zurücksinkt. Erneut bringt (B) ausdrucksvolle, melodisch geprägte Beruhigung bevor sich das Tempo steigert und der codaartige, sehr schnelle Schlussteil (F) einsetzt – in geheimnisvollem Pianissimo und mit Dämpfern gespielt. In einer Reverenz an das 5. Quartett scheint auch hier die Zeit unaufhaltsam dahinzueilen – bis im zweiten Abschnitt „störende motivische Attacken“ (Urbanner) zwar nicht die Geschwindigkeit an sich drosseln, aber doch die Ereignisdichte herunterschrauben. Sich vom Älterwerden beeinträchtigen zu lassen? Eine kichernde, in einer Mischung aus Griffschrift und graphischer Notation festgehaltene Passage (mit Doppelgriffen „ungefähr im Terzabstand“) scheint die Frage eindeutig zu beantworten. Das Geschehen beruhigt sich immer weiter, bis es leise verklingt: ein – vorläufiger – Schlusspunkt. Walter Weidringer