SCHLEE Thomas Daniel
Tränen. Neun Wiener Tänze für Klavier op. 73
Erscheinungsdatum
2009
Besetzung
Klavier 2-händig
Opus
op. 73
Dauer
27'
Bestell-Nr.
01 679
Keine Medien vorhanden
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Beschreibung
Anklänge an Tanzmusik, Blicke auf Gestalten, die im Laufe des Lebens vorbeiziehen, auf Stätten und Viertel meines Wiens, Blicke durch den Schleier von Tränen des Gedenkens, der Gegenwart und der Segenswünsche.
Die ersten vier Stücke dieses sehr persönlichen Zyklus sind Votivgaben an meine Jugend, sind der Versuch, Vergangenes, Hinabgesunkenes in klingender Erinnerung zu perpetuieren. Der „Wiedner“ Tanz evoziert die elegante Atmosphäre entlang der Gärten des Belvedere und des Palais Schwarzenberg, den täglichen Weg meines Vaters entlang der Prinz Eugen-Straße in die Direktion der Universal Edition im Musikvereinsgebäude, vorbei an Theodor Bergers Domizil – jene über die Maßen glückliche Zeit, in der ich als Kind und Jugendlicher den größten Komponisten der Epoche nahe sein durfte. Im „Gersthofer“ ist das schmerzliche Bild meines Großvaters gezeichnet, der diese idyllische Vorstadt nach der Arisierung seiner kleinen Schokoladefabrik verlassen mußte, seine fragile Gesundheit nach dem Zweiten Weltkrieg mit dem Ziehen eines Möbelkarrens durch die verwüsteten Straßen Wiens ruinierte, um – noch vor meiner Geburt – erst auf dem Friedhof wieder in diesen Bezirk zurückzukehren. „Roßauer“ beschreibt das an selbstloser Hingabe reiche, jüdisches und katholisches Erbe verbindende Leben meiner geliebten Tante, deren einsamer Tod eine tiefe Wunde hinterlassen hat. Zum Kreise unserer Familienangehörigen zähle ich auch jene von uns Kindern ihres Humors und ihrer Lebensfreude wegen ins Herz geschlossene Frau, die unserem Haushalt über Jahrzehnte in heute schier unbegreiflicher Treue hilfreich zur Seite stand. In ihrer Jugend war sie bis nach Marseille gelangt (daher eine Musette), in Ottakring war sie zuhause (daher das behutsame Steinbrecher-Zitat).
Es folgen Gaben an drei Freunde: ein langsamer Tanz über die Initialen der Germanistin und Kunsthistorikerin Annette Böhm, eine graziöse Volte für den rheinländischen Wiener Michael Nießen, der die Seele der inzwischen auch schon ausgelöschten Bösendorfer-Klaviere repräsentierte, und eine Hommage an die Schubert-Forscherin Walburga Litschauer, deren Wohnung sich just in der Bösendorferstraße befindet.
Als ich 2003 nach 17 Jahren Abwesenheit wieder nach Wien zurückkehrte, schrieb ich für meine Frau einen kleinen Tanz für den Hausgebrauch; er ist sozusagen die Quelle des vorliegenden Zyklus. Aber die Evokation unserer neuen Verortung blieb Illusion; so umgibt den „Penzinger“ die leise Melancholie um ein unerreichtes Arkadien. Der meinen Kindern gewidmete „Gumpendorfer“ beschließt die Sammlung mit einer zuversichtlichen Geste; daher die Verwendung von Messiaens 2. Modus mit seiner charakteristischen Farbgebung.
Was darf preisgegeben werden von wem, was das Innere unseres Lebens ausmacht? Wo Worte indiskret werden oder verkürzen mag die Musik festhalten, was sonst entglitte.
Thomas Daniel Schlee
Inhalt
Wiedner / Gersthofer / Roßauer / Ottakringer / Nußdorfer / Schottenfelder / Bösendorfer / Penzinger / Gumpendorfer
Rezension
Kunstvoll ausgearbeitete Tanzcharaktere, hinter deren Oberfläche sich Erinnerungen an tragische familiäre und zeitgeschichtliche Ereignisse verbergen. Neun unterschiedliche Tanztypen, nach der Tradition der Schönberg-Schule auf die Ebene komplexer Satztechnik gehoben. Ein Blick in die Wiener Abgründe des 20. Jahrhunderts, musikalisch dicht und hochgradig inspiriert.
(Max Nyffeler, NMZ 10/2012)
'Tränen. Neun Wiener Tänze' nennt Thomas Daniel Schlee sein Opus 74, das jetzt im stimmungsvollen Bösendorfer-Saal zur Uraufführung gelangte. Sie heißen 'Wiedner', 'Gersthofer' oder 'Ottakringer' und sind dem Andenken Verstorbener sowie (lebenden) Freunden und Familienmitgliedern gewidmet.
Eingebettet zwischen Klaviermusik von Franz Schubert enthüllten sie dabei ihre geheime Verwandtschaft mit dem Lichtentaler Meister. Keineswegs im vordergründig materialhaften Sinn, aber doch im undefinierbar 'Wienerischen', der verborgenen Schwermut zwischen den Polen von Anmut und Tragik. Kaum je schimmert der im Titel evozierte Tanzcharakter durch; es sind vielmehr phantasievoll und kontrastreich erfundene, pianistisch dankbare Charakterstücke, in der Tonsprache freitonal und keinem kompositorischen System verpflichtet mit Ausnahme des letzten Tanzes, der auf der Basis eines Modus von Schlees Lehrer Olivier Messiaen beruht. Und was das Wichtigste ist: All dies scheint aus echter, tiefer Emotion geboren und berührt damit unmittelbar, wie der lebhafte Beifall bewies. Die Wiener Pianistin Gerda Struhal hatte sich in die Welt dieser Musik großartig eingelebt." (Gerhard Kramer, Wiener Zeitung, 21. November 2009)
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